BDSM Sexualmedizinische Einordnung

15. Juli 2025

BDSM: Mehr als nur Mythen und Vorurteile – Eine sexualmedizinische Einordnung

Als Ärztin begegne ich oft Menschen, die neugierig, aber auch verunsichert sind, wenn es um sogenannte „abweichende“ sexuelle Vorlieben geht. Ich persönlich bevorzuge den Begriff „unkonventionell“! Besonders BDSM – die Abkürzung für Bondage & Disziplin, Dominanz & Submission, Sadismus & Masochismus – ist ein Thema, das noch immer von vielen Missverständnissen und Vorurteilen geprägt ist.

Es ist an der Zeit, BDSM als integralen Bestandteil der menschlichen Sexualität anzuerkennen – historisch, global und medizinisch.

Eine Praxis mit langer Geschichte

BDSM ist keineswegs eine Erscheinung der Neuzeit. Schon in frühen Kulturen finden sich Hinweise auf rituelle Praktiken, in denen Dominanz, Unterwerfung und gezielte Schmerzreize eine spirituelle oder soziale Funktion erfüllten. Der Sexualhistoriker Vern L. Bullough hebt in „Human Sexuality: An Encyclopedia“ (1994) hervor, dass bereits im antiken Griechenland und Rom erotische Disziplinierungen, etwa in Form von Züchtigungspraktiken, dokumentiert wurden. Auch in Mesopotamien gab es Flagellanten, die ihre Ergebenheit den Göttern gegenüber durch Selbstgeißelung zeigten.

Obwohl der französische Psychiater Richard von Krafft-Ebing 1886 mit seinem Werk „Psychopathia Sexualis“ die Begriffe „Sadismus“ und „Masochismus“ prägte, ordnete er diese Praktiken fälschlicherweise dem Bereich der Pathologie zu. Seine Ansichten waren stark von der damaligen Moral und einem inzwischen überholten medizinischen Normalitätsverständnis beeinflusst. Spätere Forschungen, unter anderem von Roy Baumeister (1988), zeigten jedoch, dass sadomasochistische Fantasien bei vielen Menschen vorkommen – unabhängig von psychischer Gesundheit oder traumatischen Erfahrungen.

Nicht zu vergessen ist der österreichische Namensgeber des „Sado-Masochismus“, Leopold von Sacher-Masoch. In seinem Roman „Venus im Pelz“ (1870) erzählt er die Geschichte des jungen Severin, der davon besessen ist, von der schönen Wanda als Sklave gehalten, unterworfen und gequält zu werden.

Eine weltweite Verbreitung

BDSM ist kein isoliertes westliches Phänomen. Praktiken von Machtspiel, Schmerz und Unterwerfung finden sich in zahlreichen Kulturen als Ausdruck sexueller, ritueller oder sozialer Rollen. Bereits in den 1930er Jahren beschrieb die Anthropologin Margaret Mead sexualisierte Rituale in verschiedenen pazifischen Kulturen, in denen Dominanz und Disziplinierung Teil der sexuellen Dynamik waren.

In Japan entwickelte sich seit dem 17. Jahrhundert die Kunstform Shibari – eine aus der Samurai-Tradition entstandene Praxis des erotischen Fesselns. Heute ist sie ein kulturell anerkannter Bestandteil japanischer erotischer Ausdrucksformen und wird weltweit praktiziert.

Diese Beispiele zeigen: BDSM ist Ausdruck einer tiefen menschlichen Auseinandersetzung mit Intimität, Macht und Körperlichkeit – und keineswegs auf westliche „Subkulturen“ beschränkt.

Fakten statt Fiktionen

Laut der Studie „Sexual Behavior in the United States: Results from a National Probability Sample of Men and Women Ages 14–94“ von Herbenick et al. (2017) geben etwa 22 % der US-Amerikaner an, sexuelle Praktiken mit Elementen von Dominanz oder Unterwerfung ausprobiert zu haben. Eine britische Studie aus dem Jahr 2014 (Richters et al.) zeigt ähnliche Zahlen: Rund ein Drittel der befragten Erwachsenen hatte BDSM-Fantasien, und 10 % haben entsprechende Praktiken auch umgesetzt.

Diese Zahlen verdeutlichen: BDSM ist keine Randerscheinung, sondern gehört zu einem breiten Spektrum menschlicher Sexualität. Die meisten Praktizierenden sind keine psychisch auffälligen Menschen, sondern sexuell aktive Erwachsene, die einvernehmliche und explorative Dynamiken leben. Zum Thema Dynamiken wird es übrigens einen separaten Beitrag geben – das würde hier den Rahmen sprengen!

Der Wandel in der Pathologisierung

Die medizinische Einordnung von BDSM war lange Zeit problematisch. Bis 2013 führte das Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-IV-TR) „Sadomasochistische Störung“ als psychische Erkrankung. Erst mit dem DSM-5 änderte sich dies: Nicht mehr das bloße Vorhandensein von BDSM-Fantasien oder -Verhalten, sondern nur noch ein damit verbundener Leidensdruck oder funktionale Beeinträchtigung gelten als pathologisch. Damit erkennt die moderne Psychiatrie an, dass BDSM – sofern einvernehmlich und nicht leidvoll – keine Störung ist.

Auch die Weltgesundheitsorganisation hat 2019 im Rahmen der International Classification of Diseases (ICD-11) einen ähnlichen Schritt vollzogen: „Einvernehmliche sexuelle Verhaltensweisen“ wie BDSM, Fetischismus oder Transvestitismus wurden explizit als nicht-pathologisch klassifiziert – ein wichtiger Meilenstein für sexuelle Selbstbestimmung und gegen Stigmatisierung.

Warum Menschen BDSM praktizieren

Ein häufiges Missverständnis ist, dass BDSM-Praktizierende traumatisiert oder psychisch instabil sein müssen. Die wissenschaftliche Evidenz widerlegt dies jedoch eindeutig. Eine Studie von Connolly (2006) untersuchte die psychische Gesundheit von BDSM-Praktizierenden und fand keine höheren Raten psychischer Störungen im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung. Im Gegenteil: In bestimmten Bereichen wie Offenheit für Erfahrungen, Kommunikationsfähigkeit und Beziehungsqualität schnitten BDSM-Praktizierende sogar besser ab.

Die Motivationen für BDSM sind vielfältig: Manche erleben durch Dominanz oder Unterwerfung intensive erotische Zustände, andere suchen emotionale Nähe, tieferes Vertrauen oder einen Zustand meditativer Hingabe. Die Sexualwissenschaftlerin Peggy Kleinplatz betont, dass „intensive sexuelle Erfahrungen häufig außerhalb des traditionellen Koitus stattfinden – durch bewusste Inszenierung, Grenzerfahrungen und tiefe emotionale Bindung“ (New Directions in Sex Therapy, 2012).

Sicherheit, Konsens und Ethik

BDSM folgt klaren ethischen Prinzipien: „Safe, Sane and Consensual“ (SSC) oder „Risk-Aware Consensual Kink“ (RACK) sind international etablierte Ansätze, die sicherstellen sollen, dass Praktiken nicht schaden, sondern im Rahmen von Vertrauen und informierter Einwilligung geschehen. Das bedeutet: Alle Beteiligten kennen die Risiken, haben klar kommuniziert und handeln aus freiem Willen.

Diese Strukturen sind keineswegs „wild“ oder „chaotisch“, wie Medienberichte manchmal suggerieren. Im Gegenteil: BDSM-Praktizierende investieren oft viel Zeit in Kommunikation, emotionale Nachsorge (Aftercare) und Bildung – etwa durch Workshops, Fachliteratur oder Selbsterfahrungsgruppen.

Die Rolle der Sexualmedizin

Die Aufgabe der Sexualmedizin besteht nicht darin, sexuelle Vielfalt zu normieren oder zu bewerten, sondern Menschen in ihrem Erleben zu begleiten. Dazu gehört auch, BDSM nicht länger durch eine pathologisierende Brille zu betrachten. Ärzte und Therapeuten sollten sich stattdessen mit den realen Lebenswelten ihrer Patientinnen und Patienten vertraut machen – und aufhören, BDSM-Praktiken mit Missbrauch oder psychischer Störung gleichzusetzen.

Der Sexualforscher Charles Moser schrieb bereits 2002: „Wenn medizinisches Personal BDSM nicht versteht, kann es leicht dazu führen, dass Patienten falsch diagnostiziert oder sogar retraumatisiert werden.“ Eine sensible, informierte und wertfreie Haltung ist essenziell – nicht nur aus ethischen Gründen, sondern auch, um Vertrauen und therapeutische Wirksamkeit zu schaffen.

Fazit

BDSM ist weder neu noch krankhaft. Es ist ein komplexes, vielschichtiges Phänomen, das Ausdruck von Intimität, Selbstbestimmung und Lust sein kann. Die wissenschaftliche Literatur zeigt klar: Solange BDSM einvernehmlich praktiziert wird, stellt es keine psychische Störung dar – sondern eine legitime Form sexuellen Ausdrucks.

Ich wünsche mir eine Gesellschaft, die Raum für diese Vielfalt lässt – und eine medizinische Praxis, die ihre Aufgabe nicht im Normieren, sondern im Verstehen sieht.

Literaturverzeichnis (Auswahl):

  • Herbenick et al. (2017): Sexual Behavior in the United States. JAMA. – Kleinplatz, P. J. (2012): New Directions in Sex Therapy. Routledge.
  • Moser, C., & Kleinplatz, P. J. (2006): Sexual Desire Discrepancy. Journal of Psychology & Human Sexuality.
  • Richters et al. (2014): BDSM: Prevalence and Correlates. Journal of Sexual Medicine.
  • Baumeister, R. F. (1988): Masochism as Escape from Self. Journal of Sex Research.

Autorin:

Dr.in Aglaia Ishtar Kotal BA, MA (alias Frau Doktor K.) für KAPA, Juli 2025

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